Selektive Neurektomie (selective neurolysis)

Diese minimal-invasive operative Therapie kommt meist für Patienten mit Synkinesien, spastischen Muskelgruppen oder einer Hyperaktivität von Muskeln auf der nicht-gelähmten Seite in Betracht. Im Schulterschluss mit einem V-to-VII-Nerventransfer scheint dieses Verfahren besonders geeignet für Synkinesien beim Lächeln[1]. Bei der selecktiven Neurektomie, auch selective neurolysis genannt,  werden kleine Unternervenäste des Fazialisnervs gezielt ausgeschaltet, während andere geschont werden (siehe Abb. 1). Der zu erwartende Erfolg einer selektiven Nervenausschaltung wird mit einer Injektion von Botulinumtoxin im Voraus getestet. Im Gegensatz zur "Chemodenervation", der medikamentösen Ausschaltung der übersteigerten Nervenreizung, gewährleistet die operative Neurektomie grundsätzlich ein dauerhaftes Ergebnis. Allerdings scheinen vor allem Nervenfasern, die bei der Therapie um das Auge auftretender (periokulärer) Synkinesien durchtrennt wurden, ein hohes Regenerationspotenzial zu besitzen[2]. Insgesamt vermag die selektive Neurektomie auch eine Verbesserung von Ausrichtung und Tiefe der Nasolabialfalte herbeizuführen[3]. Ferner wurden postoperativ natürlichere Bewegungsabläufe der Unterlippe und der oralen Kommissur beobachtet. Die selektive Neurektomie kann über versteckte Schnitte, z.B. durch die Mundhöhle (enoral), in Allgemeinanästhesie durchgeführt werden und hinterlässt üblicherweise keine sichtbaren Narben. Einen vielversprechenden Ansatz stellt das “Symmetrical Facial Repositioning” dar[4]. Hierbei werden je nach Ausprägung der Gesichtslähmung eine Entfernung (Resektion) des buccalen Fettkörperchens, eine Gesichtsstraffung (Rhythidektomie) und eine Fetttransplantation durchgeführt. Kombiniert wird diese Methode mit der selektiven Neurektomie.

Abbildung 1
Selektive Neurektomie mit gezielter Durchtrennung bspw. der buccalen und cervicalen Ästen des N. facialis bei gleichzeitiger Darstellung und Schonung der Rami marginales mandibulae und Rami zygomatici.

Quelle: Modified by author: Azizzadeh, B, Frisenda, JL. Surgical Management of Postparalysis Facial Palsy and Synkinesis. Otolaryngologic Clinics of North America 2018. doi:10.1016/j.otc.2018.07.012. FIG2.

Diese 22-jährige Patientin litt unter Synkinesien, der typischen Folgesymptomatik einer Defektheilung des Gesichtsnerv nach Fazialisparese. Beim Lächeln kommt es zu ungewollten Verkrampfungen unbeabsichtigter Muskelgruppen in der rechten Gesichtshälfte. Der Mundwinkel scheint durch eine kontraproduktive Muskelaktivität fixiert, der Kinnmuskel verkrampft und das Auge schließt unwillkürlich fast vollständig. Bei manchen Patienten kann dies im Alltag die Sehfähigkeit (beispielsweise beim Autofahren) beeinträchtigen. Nach Operation durch eine modifizierte selektive Neurektomie wirkt das Gesicht deutlich balancierter und entspannter. Der Mundwinkel hat beim Lächeln mehr Freiheit gewonnen, die Verkrampfungen rund um das Kinn und der ungewollte Augenschluss haben sich gebessert.

Dieser 34-jährige Patient klagte über die gleichen Phänomene. Vor der Operation werden beim breiten Lächeln auf der rechten Seite nur 1 1/2 Oberkieferzähne exponiert, der Mundwinkel zeigt auch beim Lächeln eher nach unten („negativer Vektor“) und es imponiert ein ungewollter partieller Augenschluss. Bereits unmittelbar nach selektiver Neurektomie und Myektomie zeigen sich erste Verbesserungen: nun zeigen sich 3 Oberkieferzähne beim Lächeln, der Mundwinkel hat einen "positiven Vektor“ (zeigt nach oben) und das Auge ist deutlich entspannter. Zur Neuordnung der mimischen Funktion sollte sich eine intensive professionelle wie auch zusätzlich eigenständig durchgeführte Übungstherapie anschließen, um ein optimales Resultat zu erzielen. 

Myotomie/Myektomie

Ähnlich der Technik der Neurektomie soll bei der selektiven Myotomie und auch der Myektomie eine gezielte Auschaltung von Muskeluntergruppen erreicht werden. Während bei der Myotomie eine gezielte Durchtrennung des hyperaktiven Muskels durchgeführt wird, hat die Myektomie die vollständige Entfernung des Muskels zum Ziel. Dabei kann es bei durchtrennten, aber erhaltenen Muskeln zu einer Wiederherstellung der Funktion durch Zusammenwachsen der Schnittkanten kommen[5].

Die Techniken der Neurektomie und Myotomie/Myektomie haben beide eine deutlich verbesserte Symmetrie der Gesichtshälften zum Ziel. Insbesondere nach einem erfolgreichen Gracilismuskeltransfer scheint sich das Augenmerk des Patienten von der Reanimation des Lächelns hin zur Verbesserung der Asymmetrie gerade im Bereich der Unterlippe zu verschieben[6]. Adressiert werden grundsätzlich Muskeluntergruppen, auf die zugunsten von funktionell wesentlich wichtigeren Gegenspielern (Antagonisten) verzichtet werden kann. Wird beispielsweise die bei Fazialisparesepatienten häufig hyperaktive mundwinkelsenkende Muskulatur gezielt geschwächt oder ausgeschaltet, so führt dies zu einer erleichterten Mundwinkel- und Oberlippenhebung[7]. Interessanterweise kann eine Myektomie/Myotomie der mundwinkelsenkenden Muskulatur einen verbesserten emotionalen Ausdruck von Ärger und Trauer herbeiführen, obwohl gerade diese Muskelgruppe für einen verstimmten oder traurigen Gesichtsausdruck verantwortlich ist[8]. Eine Veröffentlichung von Edgerton aus dem Jahr 1966 hatte jahrelang den Schluss nahegelegt, dass eine Entfernung des Unterlippensenkers (M. depressor labii inferioris) Sprachdefizite bedingen könne. Neuere wissenschaftliche Arbeiten hierzu revidieren diesen Schluss und gehen sogar von einer Verbesserung der Sprache postoperativ aus. Des Weiteren stellen alle drei Methoden Therapieoptionen zur Behandlung von Synkinesien dar[9,10].

Dieser junge Patient zeigte die typischen Symptome von Synkinesien und Dyskinesien nach Defektheilung einer Bell-Parese. Er erhielt in einem Eingriff eine selektive Neurektomie, einen Muskeltransfer im Mundbereich sowie eine Teilentfernung (Myektomie)  des Platysmamuskels. Nach der Operation zeigt sich das Gesicht balancierter mit deutlich weniger spastischer Hyperaktivität. Der linke Mundwinkel ist wesentlch freier, der negative Vektor beim Lächeln (Mundwinkel zeigte nach unten) ist verschwunden. Auch die Funktion der oberlippenhebenden Muskulatur ist verbessert: vor der Operation zeigten sich beim breiten Lachen nur 1,5 Oberkieferzähne, nach der Op zeigen sich nun 3,5 Oberkieferzähne und ein deutlich gerader Lippenstand.

Erfahrungen eines Patienten vor und nach einer selektiven Neurektomie (gezielten Nervenastentfernung) und Myektomie (gezielten Muskelentfernung).

Diese 35-jährige Patientin litt unter schwersten Synkinesien nach Defektheilung des Fazialisnervs in der rechten Gesichtshälfte. Sie klagte über einen nicht kontrollierbaren Augenschluss beim Lächeln, deutliche und teils schmerzhafte Verkrampfungen des Mittelgesichts, der Mundregion und des Halses. Die Analyse ergab mitunter einen unkoordinierte Muskelaktivität im Bereich des Mundwinkels. Ein sogenannter negativer Vektor (Mundwinkel rechts zeigt trotz Lächeln nach unten) ist zu erkennen. Nach einer gezielten Entfernung mehrerer Nervenäste (selctive neurolysis, selektive Neurektomie) und einer Muskelumsetzung sowie Teilentferung (alles in einer Operation) über einen Faceliftschnitt imponiert das Gesicht deutlich balancierter. Die Dame vermag symmetrischer zu lächeln, das Auge bleibt hierbei geöffnet, die schmerzhaften Muskelverspannungen haben sich weitergehend gelöst, auch die lästigen Einziehungen im Kinnbereich sind abgemildert. Nun ist eine konsequente Übungstherapie zur weiteren Verbesserung des operativen Resultats angezeigt. Schon jetzt hat sich die Lebensqualität der Patientin massiv gebessert.

Quellen:
[01] Vincent, A. G., Bevans, S. E., Robitschek, J. M., Wind, G. G., & Hohman, M. H. Masseteric-to-Facial Nerve Transfer and Selective Neurectomy for Rehabilitation of the Synkinetic Smile. JAMA Facial Plastic Surgery 2019. doi:10.1001/jamafacial.2019.0689.
[02] vanVeen MM,Dusseldorp JR,Hadlock TA. Long-term outcome of selective neurectomy for refractory periocular synkinesis. Laryngoscope. 2018;128(10):2291-2295. doi:10.1002/lary.27225.
[03] Azizzadeh, B., & Frisenda, J. L. Surgical Management of Postparalysis Facial Palsy and Synkinesis. Otolaryngologic Clinics of North America 2018. doi:10.1016/j.otc.2018.07.012.
[04] Hjelm N, Azizzadeh B. Modified Selective Neurectomy with Symmetrical Facial Repositioning. Facial Plast Surg Aesthet Med. 2020;22(1):57-60. doi:10.1089/fpsam.2019.29005.hje.
[05] Hussain G, Manktelow RT, Tomat LR. Depressor labii inferioris resection: an effective treatment for marginal mandibular nerve paralysis. Br J Plast Surg. 2004 Sep;57(6):502-10. doi: 10.1016/j.bjps.2004.04.003. PMID: 15308395.
[06] Lindsay RW, Edwards C, Smitson C, Cheney ML, Hadlock TA. A systematic algorithm for the management of lower lip asymmetry. Am J Otolaryngol. 2011 Jan-Feb;32(1):1-7. doi: 10.1016/j.amjoto.2009.08.011. Epub 2009 Oct 9. PMID: 20015805.
[07] Chen CK, Tang YB. Myectomy and botulinum toxin for paralysis of the marginal mandibular branch of the facial nerve: a series of 76 cases. Plast Reconstr Surg. 2007 Dec;120(7):1859-64. doi: 10.1097/01.prs.0000287136.22709.77. PMID: 18090747.
[08] Hussain G, Manktelow RT, Tomat LR. Depressor labii inferioris resection: an effective treatment for marginal mandibular nerve paralysis. Br J Plast Surg. 2004 Sep;57(6):502-10. doi: 10.1016/j.bjps.2004.04.003. PMID: 15308395.
[09] Chuang DC, Chang TN, Lu JC. Postparalysis facial synkinesis: clinical classification and surgical strategies. Plast Reconstr Surg Glob Open. 2015 Apr 7;3(3):e320. doi: 10.1097/GOX.0000000000000283. PMID: 25878931; PMCID: PMC4387142
[10] Azizzadeh B, Irvine LE, Diels J, Slattery WH, Massry GG, Larian B, Riedler KL, Peng GL. Modified Selective Neurectomy for the Treatment of Post-Facial Paralysis Synkinesis. Plast Reconstr Surg. 2019 May;143(5):1483-1496. doi: 10.1097/PRS.0000000000005590. PMID: 30807497.